Samstag, 28. November 2009

Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch (XIX)

Nichtwissen als Chance

„Sucht und Drogen im ICF-Modell“ lautet ein Buchtitel von Professor Dr. Ruthard Stachowske, Leiter der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch. ICF – was ist das denn? Dazu findet man beim nach eigenen Angaben größten Deutschschweizer Bildungsanbieter im Sozialbereich „Agogis“ diese Definition: „ICF steht für Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ein weltweit anerkanntes Modell der Weltgesundheitsorganisation WHO (2001).“ Das zwar nach Auffassung einiger Experten gewisse Schwächen hat, aber gleichwohl als Chance gesehen wird. In das Modell fließen ein: der Mensch als Körper mit seinen Funktionen, der Mensch als Individuum mit seinen Kompetenzen und der Mensch als soziales Wesen mit seiner Fähigkeit zur Teilnahme.

Teilnahme ist auch erwünscht gewesen, als am 20. und 21. Februar 2009 in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch eine Fachtagung stattfand. Zu den Referenten gehörte der Leiter der Einrichtung, der zum Thema „Recht der Kinder auf bestmögliche Versorgung“ dies sagte: „Wir können nicht auf wissenschaftlich gesicherte Wissensbestände zurückgreifen.“ Und dies: „Professionelle Aufträge können nicht ´sicher´ geleitet werden.“ Und auch noch dies: „Ich deute den Zustand des Nichtwissens für mich im positiven Sinne.“

Dann zitierte Stachowske biblische und philosophische Weisheiten über Schwangerschaft und Wohlbefinden des Kindes, beleuchtete das Thema sogar noch zeitgeschichtlich, wobei er den veröffentlichten Folien zufolge in dem von den Faschisten am 14. Juli 1933 beschlossenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ per Marker diesen Satz hervorhob: „Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“ Diesen Satz hat dieser Professor während seines Vortrages hoffentlich kommentiert…

Unfruchtbar gemacht worden ist in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch auch jene Frau, die zu einem Frauenarzt geschickt wurde. Der setzte ihr eine Spirale ein. Als sie die Einrichtung wieder verlassen hatte, suchte sie diesen Arzt erneut auf. Die Spirale wurde wieder entfernt. Das alles, sagte sie diesem Mediziner, sei gegen ihren Willen geschehen.

Dazu passen diese Sätze aus einem Brief von Heike Lemeter an die Einrichtung: „Zum großen Teil muss ich sagen, dass mir die Art Therapie, die Sie machen, nicht ganz geheuer ist.” Weiter schreibt sie: „Wie kann man Therapie machen, wenn man den ganzen Tag putzen muss? Das kann ich auch zuhause machen.“ Da war Heike Lemeter schon wieder zuhause und kämpfte noch um ihre Tochter. Fast drei Monate verbrachte sie in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch. „Einzeltherapie ist mit mir nie gemacht worden“, sagt sie.

Auf zwei Einzeltherapiesitzungen in zehn Monaten brachte es eine 34-Jährige, die mit großen Hoffnungen im April 2008 in die Einrichtung kam. Sie berichtet: „Wir wurden damals von einer Sozialarbeiterin in der Entgiftung beraten. Dann habe ich mir im Internet die Seiten von Wilschenbruch angeschaut. Die Einrichtung wurde als sehr kinder- und familienfreundlich beschrieben.“ Also habe sie sich mit ihrem Mann und ihrer vierjährigen Tochter für eine Therapie in Wilschenbruch entschieden. Sechs Wochen später stellte die 34-Jährige fest: „Wir mussten nur putzen, putzen, putzen. Wenn wir uns mal fünf Minuten hinsetzen wollten, kam schon einer und fragte, ob wir nichts zu tun hätten.“

veröffentlicht am 12. September 2009

1 Kommentar:

  1. Das Kultusministerium könnte sich daran mal ein Beispiel nehmen.
    Schüler und Studenten können sich dann freuen.
    "Ich deute den Zustand des Nichtwissens für mich im positiven Sinne", wäre eine neue Herausforderung für jeden Lehrer.

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